Die kahlen Äste der knorrigen Eichen ragen in einen neblig verhangenen Himmel. Von Blau keine Spur. Feuchte Rinden verströmen Modergeruch und der verharrschte Schnee der letzten Wochen knirscht unter dem Tritt der Rehe, die vielfach umsonst auf Futtersuche sind. Vor ihren Mäulern steht der Atem in kleinen Wölkchen nahezu still. Ganz kurz nur schafft es die Sonne gegen Mittag, die winterlichen Schleier zu durchdringen.
Der Fuchs hat sich einen dickeren Pelz zugelegt und verbringt seinerseits die meiste Zeit damit, unvorsichtigen Rebhühnern nachzustellen. Im übrigen befindet er sich in einem Teufelskreis: Rollt er sich in seinem Bau zusammen, um möglichst gering Kräfte zu vergeuden und Kalorien zu sparen, findet er keine Beute. Ist er jedoch auf der Jagd, benötigt er mehr Brennstoff für seine Muskeln und Sehnen. Die fixe Idee vom gedeckten Tisch hat sich ihm in den Kopf gesetzt. Nicht ganz wörtlich, denn er speist natürlich nicht an einem Tisch herkömmlichen Sinnes. Ihm schwebt mehr der Hühnerstall des Försters vor. Zwei Fliegen könnte er mit einer Klappe schlagen. Ein Minimum an Aufwand, sprich: Muskelbeanspruchung, und ein Maximum an Fleisch, sprich: Ein fettes Huhn. Mindestens!
Ein Nachteil bei dieser Art der Nahrungsbeschaffung liegt auf der Hand, genau genommen sogar zwei. Denn erstens ist der Hühnerstall maschendrahtig eng umzäunt und zweitens gibt es da diesen hellgrau gestreiften lauten Beller, der alles auf den Plan bringt, was als Publikum beim Stehlen unerwünscht ist. Mit anderen Worten: Es wird sich in Nullkommanichts die gesamte Försterfamilie am Hühnerstall versammeln, sobald Freund Reinecke auch nur seine Nasenspitze dort sehen lässt.
Nun gibt es aber Tage im Jahr, da wirken noch ganz andere Kräfte. Und wenn es so sein soll, passen gerade an diesen Tagen Pläne und Möglichkeiten zur Ausführung zusammen wie das letzte Teil eines Puzzles, was einem noch zum Glück gefehlt hat.
Vor Tagen hatte es geschneit, und die Schneedecke war durch die Eiseskälte hart geworden, aber auch brüchig. Hoch lag der Schnee und dämpfte die Geräusche; kaum war etwas zu hören als dann und
wann das heisere Krächzen der Elstern und Krähen vom Rand des Waldes, wo sich diese beiden Vogelfamilien die Gebiete streitig machten. Aber auch diese wie ihre kleineren Vettern im Wald waren
fast ausschließlich damit beschäftigt, ihr Leben mit Futter zu versorgen. Als in der Ferne Kirchenglocken läuteten, hob Herr Reinecke den Kopf und spitzte die Ohren. Natürlich kannte er
Kirchenglocken, aber dazwischen, da war noch ein anderes Gebimmel. Heller und näher. Durch die Bäume, die ihn vom Hühnerstall trennten, konnte er es genau sehen. Die gesamte Familie Förster saß
auf einem Schlitten mit einem Pferd davor, welches sich nun gerade in Bewegung setzte und die kleinen Glöckchen am Geschirr in Schwingungen versetzte, was diese wiederum zum Anlass nahmen, sich
in das Geläut der Kirchenglocken einzumischen.
Eine Weile später war alles ruhig. Das Försterhaus samt Hof und Stall lag ruhig in der fahlen Wintersonne, die nur eine kleine magere Katze auf der Stufe vor dem Hause genoss. Herr Reinecke stand auf und reckte sich. Dann lauschte er wieder. Nichts geschah. Er machte zwei, drei Schritte in Richtung Haus. Nichts. Kein Beller, kein Zweibein - absolute Stille. Aus dem Hühnerstall drangen ein paar Gacker herüber. Immerhin - die waren zu Hause geblieben. Der Fuchs setzte seine Beine vorsichtig eins vor das andere und kam seinem Objekt der Begierde langsam, aber Schritt für Schritt näher.
Nun stand er schon am Zaun zum Hof. Kein Zweibein zu sehen oder frisch zu riechen. Der Wind stand ihm zur Seite und verwehrte der Katze noch seinen Geruch. Den grauen Beller konnte Meister Reinecke hinter der großen schweren Eingangstür wittern, was diesem wiederum ebenfalls sogleich gelang. Nützen tat es ihm nichts, denn die Tür war verschlossen. Seine Menschen hatten es gut mit ihm gemeint und ihn wegen der frostigen Luft ins Haus gelassen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit heiserer wütender Stimme drei Fragen hinter der Tür zu spielen und zu versuchen, den Fuchs zu verbellen. Das brachte nun rein gar nichts, sondern nur die Katze auf die Beine und zu einem sichereren Ort. Herr Fuchs aber kannte dieses Spiel sehr genau und antwortete ihm deshalb überhaupt nicht. Und Katzen waren in kargen Zeiten nützlich, aber heute entbehrlich, weshalb er sich um diese gerade jetzt gar nicht scherte. Er schlich geduckt, den Bauch fast am Boden - man konnte ja nicht wissen - zur Hofeinfahrt. Nichts rührte sich. Mit allen Sinnen in höchster Alarmbereitschaft, wie es einem im Wald lebenden Tier ansteht, erreichte er den Hühnerstall.
Unglaublich! Försters hatten tatsächlich Haus und Stall unbewacht verlassen. Wozu auch immer die ganze Sippschaft gezogen war - ihm war es recht. Reinecke lauschte. Der graue Köter, vor dem er
ohne die Tür etwas mehr Repekt gehabt hätte, war - wie schon gesagt - eingesperrt. Das Bellen machte ihn dennoch geringfügig nervös, und er gedachte, seinen Besuch nicht unnötig in die Länge zu
ziehen. Man musste zwar nicht lange rätseln, wer von ihnen heute die besseren Karten hatte - der Graue im fest verschlossenen Gebäude oder Herr Fuchs hier draußen und unbehelligt. Unvorsichtig
waren sie, diese Menschen. Diese Zweibeiner. Diese Unberechenbaren mit ihren langen lauten Stöcken, mit denen sie seinesgleichen gern erschreckten und manchmal auch töteten. Heute nützte es ihnen
gar nichts.
Herr Reinecke spitzte noch ein letztes Mal die Ohren und hob die Nase in den Wind. Kalt war der und scharf. Ein Winterwind, der hier im von Bäumen ungeschützten Hof des Försterhauses so
unbarmherzig blies. Es wurde Zeit, in den Stall zu gelangen. Oh, er, der Schlaue, kannte genau die Stelle, an der der Zaun nicht mehr ganz war. Sei es, dass andere Füchse ihn herausgezerrt
hatten, sei es, dass am Geflecht der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hatte. All dies entzog sich seiner Kenntnis. Ihm genügte es, um diesen Vorteil zum Nachteil der Hühner zu
wissen.
Da war sie, die löcherige Maschenkonstruktion, die hier so wenig Schutz bot wie ein flaches ebenes Feld einem Kaninchen. Kaninchen hatte er auch schon eine Weile nicht mehr genossen. Rar machten
sie sich, die kleinen flinken Biester mit den schnellen Läufen. Und ihre großen hakenschlagenden Verwandten hatten schon lange eine andere Gegend aufgesucht.
"Drum nun zu euch, ihr lieben kleinen gefiederten Freunde, die ihr hier eingesperrt seid. Ich befreie auch aus eurer misslichen Lage."=
Die Menschen mochten ihm tiefsinnigen Humor nicht zutrauen, seis drum.
Nun war endlich der Zaun - wenn man so will - unterwunden und der Rote stand im Gehege. Noch immer rührte sich nichts auf dem Hof, wohl aber jetzt im Hühnerhaus, denn Familie Förster hatte nicht
nur ihren treuen Freund, sondern auch Hennen und Hahn eingesperrt. In weiser Voraussicht wegen ihm, dem Roten oder wegen der Kälte, wer wusste das schon?
"Der Fuchs!" "Der Fuchs!" ertönte nun lautes Gekreisch und Gegacker. Fast musste er seine Lefzen zu einem Grinsen verziehen. Er fürchtete und liebte zugleich dieses Geschrei um seine Person. Und heute konnte er es richtig genießen. Es war ja niemand anwesend, der auf den Plan gerufen werden konnte. Als er das Gebäude erreicht und die Klappe, die von außen zugänglich war, aufgestoßen hatte - ja, da war vielleicht war los! Kein Huhn hielt es mehr an seinem Platz. Alles flog aufgescheucht durcheinander und hoch. Dumm waren sie, diese Hühner. Anstatt auf ihren hohen Schlafstangen weit oben im Raum sitzenzubleiben - dort hätte er sie nur mit Schwierigkeiten erreichen können - flatterten sie wie wild gewordene graue Gänschen umeinander, prallten zusammen, versuchten, das von alten Spinnweben verhängte kleine Fensterchen in der linken Wand zu erreichen. Stroh aus den Eierkästen wurde aufgewirbelt und in kürzester Zeit war der Raum voll von Staub.
Herr Reinecke schoss von einer Raumseite in die andere, sprang zwischen die Meute, schnappte nach dem Hahn, der wie ein Harlekin in seinem bunten Gefieder nichts, aber auch gar nicht gegen ihn, den Meister, ausrichten konnte. Aber den Hahn wollte Reinecke nicht. Der war zu mager und zu zäh. Da begnügte er sich, an den bunten Federn zu rupfen, die der Hahn mit viel Koketterie und Stolz, ja sogar mit einer gewissen Arroganz hinter sich getragen hatte. Nein, ihm stand der Sinn nach einer, mindestes einer dieser fetten Hennen mt den zarten weißen Federn, möglichst eine, die dieses Frühjahr aus einem Ei geschlüpft war.
Trotz des wirklich nicht zu überhörenden knurrenden Magens nahm er sich Zeit für einen kleinen Spaß mit diesem Federvieh. Er rannte von einer Seite des Raumes auf die andere, machte ein paar Sprünge in die Luft, wie um sich eines der Hühner zu schnappen. Wie sie kreischten und umeinander flogen! Zu schön war es. Er badete in diesen Träumen von fettem Fleisch, aalte sich in den Gedanken an ein Festmahl. Nach einer Weile hatte er jedoch genug von dem Gekreische und Gequietsche. Was machten die nur für ein Gewese, eines der ihren zu verlieren! Fast war er geneigt, ihnen selbst die Schuld zu geben. Er konnte sich für eine ganz kurze Weile vorstellen, sie alle am Leben zu lassen, wenn sie sich beherrschen könnten und mehr Contenance an den Tag legen würden. Aber dieses dumme Hühnervolk hatte sein Recht verwirkt, dass man ihm mit Respekt begegnete. Wäre er an ihrer Stelle, er würde Haltung bewahren. Er würde dem Tod ins Auge sehen und ruhig dabei bleiben. Hatte man einen seiner Familie schon jemals derartig kreischen oder gackern hören? Wohl kaum.
Also: Welches Huhn leuchtete ihm als Festmahl entgegen? Für welches sollte er sich entscheiden? Eine kurze Zeit hörte er auf, wie wild hinter ihnen her durch den Stall zu springen und erlaubte dem aufgewirbelten Staub, sich zu legen und den Blick auf die Hühnerschar klarer werden zu lassen. Mit listigen schmalen Augen schätzte er das Gewicht der Hühner, eines nach dem anderen. Wie sie an ihm vorbei defilierten - um mal ein etwas unpassendes Wort für dieses Getümmel zu benutzen. Seine Wahl fiel auf ein Huhn mit einem guten Körpergewicht und jung an Lebensdauer. Seine große Erfahrung, die er gesammelt hatte, als der Hühnerhof des Försters noch weniger gesichert war, sagte ihm, dass dieses Huhn genau das richtige sei. Er würde satt werden, sich aber nicht den Magen verderben.
Er machte wieder einen Sprung, damit Bewegung in die etwas ruhiger gewordene Gesellschaft käme und wartete im Grunde genommen gelassen auf das Auserwählte, welches ihm wie vorausgesehen kurze Zeit später zwischen die Kiefer geriet. Ein Biss in den Hals, und der schlaffe Körper hing in zwei ungleichen Teilen rechts und links aus seinem Maul. Der Kopf auf der einen Seite pendelte leicht, der restliche Körper auf der anderen Seite hing dagegen schwer herunter und baumelte nur ganz wenig.
Das war kurz und schmerzlos vor sich gegangen. Keinen Piepser tat das Huhn mehr.
"Seht ihr, so ruhig solltet ihr seid. Es bringt doch nichts, euer Wehgeschrei. So verausgabt ihr nur eure wertvollen Kalorien." Kalorien waren doch immens wichtig, vor allem in dieser Jahreszeit!
Wieder kam dieser leicht ironische Unterton in seinen Geist, auch wenn er das Wort dafür nicht kannte.
Er überlegte kurz. Wenn er das Huhn jetzt mit sich schleifte und in seinem Bau verzehrte, war es zwar in seinem Bauch, aber dann hatte er morgen und übermorgen wieder nichts zu beißen. Und er konnte sich nicht darauf verlassen, dass Försters und der graue Beller ihm morgen erneut Haus und Hof so ohne jede Gegenwehr überließen. Was war also ein besserer Plan?
Er schaute sich um und stellte fest, dass dieser Hühnerbau eine gewisse Gemütlichkeit aufwies. Stroh im Kasten, der so groß war, dass er sich mitsamt dem schlaffen Hühnchen hineinsetzen konnte.
Außerdem stand auch eine Schüssel mit Wasser dort in der Ecke. Das Wasser war zwar nach diesem Juchhei hier im Stall nicht mehr das sauberste, aber trinkbar. Es roch auch nach Hühnermist wie
alles übrige hier, das sollte ihn für heute nicht stören.
Also beschloss er, dieses eine Huhn, das nun als erstes das Zeitliche gesegnet hatte, zu verputzen - hier an Ort und Stelle. Und dann - und damit schielte er aus schrägen Augen nach oben, denn
sein Kopf hing mit dem Hühnergewicht etwas herunter - dann würde er sozusagen als Reiseproviant ein zweites Huhn in den Hals beißen und mitnehmen. War das nicht ein besonders guter Plan? Er
konnte sich nicht erinnern, dass in seiner Familie schon jemals jemand einen derartig ausgebufften Plan ersonnen hatte. Ha!
Reinecke sprang mit einem Satz auf die untere Lage Stroh, die in etwa einem halben Meter Höhe auf einem breiten Bord mit hochgezogener Kante an der Wand befestigt war. Der Sprung brachte alle,
die sich schon wieder etwas beruhigt hatten, in Wallung. Um nicht zu sagen: In einen ungeordneten Haufen wild schreiender Federknäule.
Reinecke schüttelte den Kopf über soviel Unverstand. "Völlig unnötig", sagte er wie zu sich selbst, "all die schönen Fettpölsterchen gehen dabei flöten."
Damit machte er sich an das erbeutete Tier und ließ die nächste halbe Stunde außer einem gefräßigen Knurpseln und Knacksen nichts von sich hören, aber auch nichts von dem Huhn nach. Sauber abgenagte ungenießbare Überreste - und dere gab es nicht all zuviele - gaben mit dem Stroh zusammen ein Stillleben ab. Satt und zufrieden lag der Fuchs im Warmen direkt mittendrin. Das machte ihm nichts aus. Es war schließlich nicht sein Bau, der hier mit Unrat übersät war. "Sehr sauber seid ihr nicht", sprach er das Volk - eigentlich sein Volk, seine Untertanen, die wieder ruhiger geworden waren -, an. Sie antworteten ihm mit ärgerlichem und auch wütendem Gegacker. "Und riechen tut es hier auch etwas streng - nach Hühnermist", setzte Reinecke hinzu, "nach verdammtem Hühnermist!" Das letzte Wort bellte er laut hervor. Voll gefressen und schläfrig, aber auch aufgelegt zu Streichen war er. Was konnte man hier anstellen? Man konnte diese Gesellschaft noch einmal völlig aus dem Häuschen bringen, man konnte ihren Anführer beißen, ohne ihn gleich völlig zu erlegen. Und man konnte, wenn man wollte, jedes - aber auch jedes dieser gackernden Hühner als Vorrat mitnehmen. Es war draußen kalt und es gab Nachtfrost. Da würde sich ihr Fleisch lange, lange halten. Reinecke setzte sich auf, was sofort alles im Stall wieder auf Flügel und Beine brachte. Und wieder dieses irre Gegacker und Gekreische. Selbst der Hahn, der doch sonst so viel darauf hielt, sein Kikeriki laut über Gehöft und in den Wald hören zu lassen, selbst er bekam keinen vernünftigen Ton heraus.
"Mal ehrlich, Alter," sagte Reinecke zu ihm, "was finden die eigentlich an dir? Du hast noch nicht einmal eine einzige anständige rote Feder an deinem Körper. Und die Feigheit schaut dir aus den
Augen. Ja, wenn du jedenfalls vier Beine hättest. Statt dessen hast du zwei Flügel, die man dir kurz geschnitten hat, damit du nicht das Weite suchen kannst."
So und anders höhnte Reinecke den an, der ständig versuchte, mit kurzen Stummelflügeln in die oberste hinterste Ecke des Raumes zu gelangen, dort, wo noch nicht einmal ein Schlafbalken war, aber das realisierte er gar nicht in seiner Panik, von diesem Scheusal dort unten wegzukommen.
Als er ein wiederholtes Mal herunterfiel und nicht schnell genug wieder Höhe erlangte, biss der Fuchs ihn. Nur ganz leicht, nur ein Zwicken in den Rücken. Aber die Zähne des Roten waren scharf und gruben sich so schön leicht in das magere Fleisch des Bunten, der daraufhin wie angestochen kreischte. Zufrieden wandte Reinecke sich von ihm ab. Genauso hatte er sich das vorgestellt.
Doch nun zu der weiteren Beute, die ersich auserkoren hatte, in seinem Bauch zu enden. Und wieder ging er vor wie beim ersten Mal. Ein Sprung, ein wildes Ducheinander und - beiß - schon hing das
gewünschte Objekt in seinem Maul. Es war etwas größer und stärker als das erste, so war es nicht beim ersten Biss in den Hals tot, sondern Reinecke musste es ein wenig hin- und her schleudern.
Aber dann war es nur noch Fressen für ihn, kein Gegacker mehr, kein Gequietsche, nur ein bisschen lebloses Hühnerfleisch.
Reinecke ließ das Huhn vor sich fallen und besah es. Lecker sah es aus, frisch roch das herausfließende Blut, frisch und warm. Draußen neigte sich der Tag, durch das kleine Fenster fiel letztes Licht.
Rot stand die Sonne gerade eben noch am niedrigen Winterhimmel, der in der Ferne untrügliche Anzeichen des Dunkelns zeigte. Und dann - so wusste Reinecke - würden viele Sterne funkeln und die
Menschen würden ihre eigenen Sterne anzünden. Es war an der Zeit, zum heimischen Bau zurückzugehen.
Reinecke nahm das Huhn zwischen seine Fänge und begab sich zu der Klappe, durch die er in das Hühnerhaus eingedrungen war.
Als er mit dem Huhn im Maul die Klappe aufstoßen wollte, um wieder ins Freie zu gelangen, machte er die wohl erstaunlichste Entdeckung seines Lebens. Diese Klappe, durch die er so leicht eingestiegen war, ließ sich nicht öffnen.
Es gehörte vieles zu seinem Erfahrungsschatz im Zusammenhang mit Menschen. Er kannte ihre lauten langen Stöcke, mit denen sie aus großer Entfernung seinesgleichen töten konnten. Er kannte ihre lauten dröhnenden Fahrzeuge, die so schnell rollten, dass einige seiner Verwandten ihnen nicht entwischen konnten und später auf den glatten graslosen Wegen, die die Menschen Straßen nannten, lagen und keinen Mucks mehr von sich gaben. Er kannte ihre lauten Schritte, die ihm schon lange, bevor sie selbst in Sicht kamen, Kunde von ihrem Herannahen gaben. Ja, er kannte sogar ihre Bauöffnungen, die sich hinter ihnen schlossen und an denen er ab und zu mal geschnüffelt hatte. Aber eine Tür, die man von außen leicht öffnen konnte und von innen überhaupt nicht - so eine Tür gehörte nicht zu seinem Wissen. >Mal was Neues=, dachte er, aber dann wurde ihm klar, was das bedeutete. Er war gefangen, und zwar in einem Stall mit einem Haufen Verrückter.
Er versuchte noch ein paar mal, die Klappe zu öffnen - ohne Erfolg. Die Ironie der Situation kam ihm in den Sinn. Am frühen Morgen wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, jetzt konnte er noch nicht einmal eine Klappe für sich selbst öffnen. Und so ließ er auch die Versuche jetzt bleiben. Wenn er etwas hasste, dann war es Panikmache. Vergeudung der Kräfte. Er war schließlich kein Huhn und darum eher ein Tier des Verstandes. Wie um sich das selbst auch noch zu bestätigen, scheuchte er die Gesellschaft ein paar mal durch den Raum. Das hatte auch den Sinn, denen nicht die Gelegenheit zu geben, seine eigene Situation zu überschauen. Das wäre was! Hühner, die sich über einen Fuchs lustig machten. Aber nicht mit ihm! Noch war draußen alles still und so lange das so blieb, war alles völlig okay. Hier gab es Essen und Wasser, die beiden bedeutendsten Dinge im Leben. Er brauchte in dieser Hinsicht also nicht zu verzweifeln. Und alles andere - man würde sehen.
Reinecke seufzte. Er konnte sich ebenso gut wieder ins warme Stroh legen, abwarten und Kräfte sammeln. Vorsichtshalber nahm er seinen Reiseproviant mit ins warme Bett. Wie angenehm es hier war. Viel wärmer als in seinem kalten Erdbau und überhaupt nicht feucht. Eine bessere Behausung aber hatte er in diesem Winter nicht gefunden. Andere waren noch schlechter dran, das wusste er, weil er mehrfach Auseinandersetzungen mit seinesgleichen gehabt hatte eben um diesen Bau. Er hatte sie alle als ungebetene Gäste verscheucht. Sein Bau war auch keinesfalls groß genug für mehr als einen Fuchs. Er konnte in diesem kleinen Erdloch vermutlich nicht einmal eine Familie gründen, falls er eine neue Lebensgefährtin finden sollte. Mit kleinen Welpen, die umher sprangen, an seinem Nacken knabberten wie die vom letzten Jahr.
Mit seinem Kopf zwischen den Vorderpfoten sinnierte er über dies und das. Er dachte an die fernen Tage. Er hörte die Melodie des Sommers, die den Gesang der Vögel und das Summen der Honigsammler vereinigte, das Zirpen der Grillen an einem lauen Abend und in der Ferne das Geläut der Glocken.
Mit einem heftigen Schreck wachte er auf und hörte draußen das Gebimmel des Schlittens, das die Rückkehr der Försterfamilie anzeigte. Geistesgegenwärtig schnappte er sich das vor ihm liegende Huhn und sprang vom Strohbett herunter, was natürlich dieses dumme Hühnervolk wieder auf Trab brachte. Wie er sie hasste! Konnten sie nicht einmal stille sitzen und sich an ihm ein Beispiel nehmen, an ihm, der in der Gefahr ruhig blieb und so sein Leben rettete? Aber nein, noch viel lauter als zuvor kreischten sie jetzt. Mit allen Sinnen und Muskeln angespannt stand er lauernd mitten im Stall, der Tür gegenüber. Er wusste: Seine einzige Chance war es, in dem Moment zu entwischen, wenn die Menschen nach ihrem kreischenden Vieh sehen würden. Er hoffte inbrünstig darauf, dass sie dies sofort täten und nicht erst den Grauen oder womöglich ihren langen Stock holten. Denn das war der Horror, der im Wald in grausigen Geschichten seine Runde machte. An langen warmen Sommerabenden auf der Lichtung oder unter Tannen, auf denen Elstern saßen, die nichts besseres zu tun hatten, als jungen Fuchswelpen Angst einzuflößen. Menschen töteten Füchse, das war bekannt. Aber musste man deshalb daraus so eine große gruselige Sache machen? Das war wenig lehrreich. Auch wenn jeder wusste, was die Elstern dazu trieb. Sie selbst waren häufig genug Opfer dieser Menschen-Stöcke. Und das aus gar keinem anderen Grund als dem, dass es so viele von ihnen gab.
Nun war die Situation, in der er sich befand, eine noch nie dagewesene. Und sie war ganz anders, durchaus ganz anders als die, die er sich noch ausgemalt hatte, als er vorhin in dieseb Stall hinein gekrochen war.
Er hatte immer damit gerechnet, eines Tages von einem Förster niedergemacht zu werden, er hatte damit gerechnet, im Winter nicht genügend Futter zu bekommen und vielleicht eines Tages zu hungrig zu sein, um den nächsten Frühling noch zu erleben. Vielleicht wäre auch ein Streit mit einem stärkeren Fuchs mal böse ausgegangen. Aber er hatte nie, niemals in seinem Leben daran gedacht, in einem Hühnerstall gefangen zu sein. In einem Hühnerstall! Er musste zumindest gegen sein wirklich mieses Gefühl etwas unternehmen, und dazu waren die Hühner schließlich da.
Mit hühnervollem Mund, rechts und links heraushängend, war er zwar kaum deutlich zu verstehen, aber dennoch fragte er frech:
"Was glotzt ihr? Seht her auf meinen Bauch. So dick ist er, und wisst ihr, er wird demnächst noch dicker sein. Weshalb? Weil dann zwei eurer Fettesten darin ihr ruhmloses Ende genommen haben werden."
Um ihnen zu zeigen, dass er weder Tod noch Teufel und sie schon gar nicht fürchte, sprang er auf das nächstbeste Huhn zu, welches ob der Dummheit, die es in sich trug, überhaupt nicht
einschätzen konnte, dass er sein Beutetier keinesfalls herausfallen lassen würde und es deshalb auch nicht beißen würde. So kreischte es laut und schlug mit den Flügeln, um eine andere bessere
Position zu erlangen.
Zwischen all dem neuerlichen Geschrei im Hühnerstall hatte Reinecke dennoch das Bellen des Grauen nicht überhört.
Wenn Reinecke eines gelernt hatte, dann war es das, dass Menschen niemals Füchse straflos ließen. Der Förster würde ihm, dem Meister, ein Ende bereiten. Und das in einem Hühnerstall. Diese
Tatsache ließ ihn richtig wütend werden und in seiner Wut war er maßlos zufrieden, dass er zwei der besten im Stall geholt hatte. Er bedauerte nur, dass er vielleicht nicht mehr dazu käme, seine
Zähne in das noch warme Fleisch des Huhns zu schlagen, welches er im Maul hatte. Und noch viel mehr bedauerte er es, dass er es nicht geschafft hatte, allen hier im Stall einen Denkzettel zu
verpassen, sozusagen auf dem Weg ins Jenseits.
Seine Hoffnung in Bezug auf den Grauen erfüllte sich nicht. Als die Tür aufgerissen wurde, fiel erstens grelles Licht in den Stall und zweitens ein wütend bellender gefleckter Hühnerhund. Laute Stimmen mischten sich in das Gebell und die Hühnerschar sah sich unversehens zwischen allen Fronten und keineswegs beruhigt. Und so wandte sich gerade diese zu Anfang so schlecht eingeschätzte Situation für Herrn Reinecke zum besseren. Denn der Graue, der Sicht mehr oder weniger beraubt durch flatterndes Federvieh, durch den Sprung vom Hellen ins Dämmerlicht des Stalls und nicht zuletzt mit viel Staub in de Augen, konnte den Roten nicht sofort ausmachen. Da der sich nicht rührte und zwischenzeitlich arg viel Geruch vom Hühnermist angenommen hatte, sprang der Graue dem aufgescheuchten und wild flatternden Federvieh nach.
Dies alles geschah in Bruchteilen von Sekunden, langte Freund Reinecke jedoch zu einem lebensrettenden Sprung ins Freie - mitsamt Huhn im Maul und mitten durch die Försterfamilie, die an der Tür sich eher gegenseitig die Chance wegnahmen, ihn zu greifen, hindurch.
In einem olympiareifen Spurt erreichte er das Loch im Zaun, war durch und im schützenden Dickicht der Bäume, ehe der Graue auch nur ein weiteres "Wuff" zu bellen vermochte. Beim Versuch, dem Fuchs durch das Loch zu folgen, blieb er darin stecken, weil der Fuchs klein und schlank war, denn seine Kost hing sehr davon ab, wie fett die Beute war. Der Graue aber war groß und wohlgenährt, weil sein Napf täglich gefüllt wurde.
Der Fuchs blieb erst wieder stehen um Atem zu schöpfen, als er sich in sicherer Entfernung des Försterhofes wusste. Und da war er schon bei seinem Bau.
Er kroch hinein und war nicht mehr zu sehen, ebenso wenig das Huhn, welches er auf der Flucht nicht einmal hatte fallenlassen.
Am Abend dachte er über sein Abenteuer nach und war mit sich sehr zufrieden. Alles war zum Besten ausgegangen. Er hatte schon als kleiner Welpe gelernt, bei Gefahr ruhig zu bleiben und sich nicht
zu mucksen. Anders als diese blöden Hühner, die den Grauen mit ihrem Spektakel genarrt und so dem Meister die Flucht ermöglicht hatten. Des weiteren hatte er durch seine harte Lebensweise,
verbunden mit den kargen Mahlzeiten im Winter, eine prächtige schlanke Figur, die ihm ebenfalls auf dieser Flucht durch das Zaunloch zupass gekommen war.
Und er beschloss, sein Leben nicht zu ändern. So wie es war, war es gut.
Dieser Wintertag, der kürzeste - würde eine ruhige Nacht bringen. Der Himmel war wolkenlos und viele Sternenlichter waren zu sehen. Schon morgen würde sich die Sonne ein ganz klein wenig länger als heute zeigen und darauf freute sich nicht nur Reinecke.
11/1999