Brief an einen Freund
oder:
Sehnsucht nach Rarotonga
Mein lieber Freund, heute ist meine Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Um mich herum gibt’s keine Fröhlichkeit.
Um mit dem Wetter anzufangen:
Der Himmel ist seit Tagen schon verhangen von einer grauen Wolkendecke.
Kein Sonnenstrahl bricht durch, und die Menschenmassen scheinen sich mit dieser Farbe, die ich wahrlich nicht als Kolorit bezeichnen kann, zu vereinen.
In tristen Häusern sterben alte Menschen einen langsamen, oftmals kaum beachteten Tod.
Kleine Kinder weinen lautlos Tränen, denn ihre Seelenschreie verhallen ungehört. Blechlawinen verpesten meinen
Spaziergang durch die Straßen,
und der Moloch Stadt erstickt mit seinen Ausdünstungen die Bäume, deren borkige Stämme ich von Zeit zu Zeit liebkose.
Vogelarten verlassen unsere Kreise, und außer den domestizierten haben alle anderen Tiere die Gegend längst
verlassen.
Liebe ist nur noch ein Wort. Schnell gesagt, noch schneller getan, denn Zeit ist Geld. Was übrig bleibt, ist Leere, Traurigkeit und allzu häufig der Ansatz eines
ungewollten Kindes. In meinem Innern ist eine tiefe Sehnsucht.
Sehnsucht nach Rarotonga, Eiland im weiten Ozean, wo der Leguan seine Spuren im weißen Sand neben seinem Gelege hinterlässt und smaragdene Fische sich klar gegen
die hellen Riffe der Bucht unter Wasser abzeichnen.
Komm mit mir nach Rarotonga, lass uns beide dort einen sanften Tod suchen und niemandem etwas davon
erzählen.
(Dieser Text entstand in einer Symbiose-Arbeit zu einem Gemälde von Johann-Reimer Schulz, 1990, in Ausstellungen in Hamburg, Berlin, Wendland und wurde in dem Lyrikband "Lyrik und
Prosa", edition feldhase, veröffentlicht.)