Die Frage der Schuld

Eigentlich hätten wir schon längst drauf kommen müssen. Aber manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es war wieder eines dieser in die Länge gezogenen Frühstücksgespräche hochgeistigen Inhalts, das uns darauf brachte. Über Dialoge, die an Druckreife nichts zu wünschen übrig haben, war uns wie aus heiterem Himmel klar: Wir sind schuld. Schuld. Also, nicht alle am Tisch sitzenden Teilnehmer dieses späten Wochenendfrühstücks, was wegen des kurzfristig erneut eingetretenen Winters nach innen verlagert werden musste. Das mit der Schuld sagt sich so leicht dahin und möchte auch gar nicht wahr sein. Aber man muss der Sache ins Auge blicken. Die Schuldfrage ist geklärt und eindeutig.

 

Nehmen wir nur mal Leonardo. Oder Jules. Und es hat schon wesentlich früher begonnen. Nur - wir waren blind. Blind, den Tatsachen ins Auge zu sehen.

 

Später kam noch George dazu, nach Aldous, aber da war es schon viel zu spät. Sogar Walt war nicht unbeteiligt. Ich duze diese Leute alle, nicht, weil ich sie persönlich kennen gelernt hätte. Sie sind auch leider schon alle von uns gegangen und haben die Zeit nicht überdauert. Aber ihre Schuld hat dies gewiss. Ich duze sie, weil ich mit ihnen tiefgreifend seelenverwandt bin. „Es sind die Phantasten, nicht die Erbsenzähler, die unsere Welt in Atem halten“ ein Zitat, welches mir auf einer Postkarte begegnet ist. Irgendwann im Laufe meines Lebens – Autor nicht bekannt. Ich hoffe, er möchte es verzeihen, dass ich dieses Zitat hier einstelle. Ja, die Phantasten halten unsere Erde in Schwung. Wo wären wir heute, wenn nicht Menschen mit Weitblick das Rad erfunden hätten. Oder Brunnen gegraben. Weiter möchte ich hier an dieser Stelle gar nicht ausholen. Also. Wie ich schon sagte. Ich duze sie, weil ich mich ihnen sehr verbunden fühle und weil eine Schuld leichter gemeinsam zu tragen scheint. Aber - was hätten wir alles verhindern können.

 

Ich schlage die Zeitung auf und sehe die Schlagzeile:

 

GENforschung kommt voran. Und der Artikel offenbart das gruselige Szenario eines Wesens, halb Mensch, halb Kuh. Das ist Fiktion. Natürlich. Aber morgen wird es wahr sein. Morgen wird es deshalb wahr sein, weil es irgendwo schon geschrieben steht. Aufgeschrieben von einem Phantasten, der seiner Zeit voraus denkend war. Er war seiner Zeit voraus? Nein. Er hatte nur Ideen, seine phantastischen Ideen, die er der Welt preisgab. In einem Roman, einer Kurzgeschichte, einer Novelle – vielleicht auch nur in einem Gedicht. Und diese Worte, die so harmlos aneinander gereiht auf dem Papier standen, wurden gelesen. Gelesen von Menschen wie du, wie ich und ganz anderen. Und diese ganz anderen, die griffen sich die Seiten, das Buch, den Artikel und horteten sie. Sie sparten sie sozusagen auf für eine Zeit der Machbarkeit. Lange Jahre lagen diese aneinander gereihten Phantasien von Menschen wie uns in Schubladen, in Listen, in Ordnern und – in den Köpfen der Menschen, die sie nicht nur aus Freude an der Geschichte lasen, sondern die etwas damit vorhatten.

 

Leonardo hatte versucht, durch kleine Fehler Plagiate, vielleicht sogar die Entwicklung selbiger Maschinen, die er zu Zeichenpapier gebracht hat, zu verhindern; allein, es hat ihm nichts genutzt. Die Fehler wurden erkannt und ausgemerzt. Und zu allem Überfluss wurde ihm auch noch Dilettantismus vorgeworfen, wegen der Fehler. Und Jules – er schrieb sich phantastisch um den Verstand, tauchte in eine fremde Welt, die es später zu entdecken galt. Er selbst war nie dort, überließ der Nachwelt aber im höchsten Maße verwertbares Material zur weiteren Verwendung in „echt“.

 

Aldous dachte, er könne mit seinem Roman „Schöne neue Welt“ dem ganzen Einhalt gebieten, den Beteiligten aufzeigen, was geschieht, welchem Feind wir eines Tages gegenüber stehen. Aber nein, gerade ihn nehmen sie heute beim Wort und forschen, was das Zeug hält. Aldous ist vermutlich der einzige, der das, was er so phantastisch dargestellt hat, zu Lebzeiten wahr werden sah. Zumindest zu einem Teil. Stellen wir uns dabei vor, er sei damit glücklich gewesen? Vielleicht war er der, der schon früh erkannt hatte: Seinen Teil der Schuld.

 

Schließlich George, der überholt und überrollt wurde. Das Jahr 1984 ist längst vorbei und die gespenstischen Darstellungen, die Albtraum artigen Gesellschaftsformen, die Furcht einflößenden politischen Verhältnisse, die George seinen lesenden Mitmenschen hinterließ – ohne Ansehen der Person, was allemal ein Fehler sein dürfte – sind längst Schnee von gestern. Wir sind heute weiter. Viel weiter. Siehe die halbe Kuh samt Kalb.

 

Selbst Walt, der einen schnatternden Enterich erfand, der in seinem Matrosenhemd nicht älter wird, trägt seinen Teil dazu bei. Viele der Geschichten mit den bunten Bildchen griffen weit ins Land der Träume und der zukünftigen Geschehen ein. Nicht nur eine seiner ausgedachten „Erfindungen“ wurde später übernommen, zur produktionsreifen Blüte und für viel Geld auf den Markt gebracht.

 

Ich will ja nicht verhehlen, dass es einiges gibt, was uns zur Freude gereicht. Aber da wir den Beelzebub zulassen, treiben wir es auch mit dem Teufel. Der Eine geht nicht ohne den anderen.

 

Ach, wir dummen Leute. Wir verstehen nicht wirklich, was vor sich geht. Wir sind aber die, die mit dem Feuer gespielt und vergessen haben, rechtzeitig den Mann an der Spritze herbei zu rufen, der verantwortlich dieses Feuer wieder auslöscht.

 

Für die Welt der Literatur – und euch ist klar, dass es darum geht – sollte gelten, was sich im Internet schon lange als gute Idee durchgesetzt hat. Bücher nur noch für Menschen, die ganz allein nur die Geschichte lesen wollen und nichts anderes damit bezwecken. Ich möchte nur noch solche Leser haben, die keine Hintergedanken mit sich herum tragen, welches Kapital sie aus dem Gelesenen schlagen können und wie sich die phantastischen Vorgaben in zukünftige Vorhaben einbauen, umwandeln lassen. Es müsste die Möglichkeit der Patentierung geben. Ich als Autorin habe das Recht, darüber zu bestimmen, wie meine Phantasie genutzt wird. Und ich weiß schon heute, dass ich nicht zulassen werde, irgendeinen meiner zukünftigen Gedanken ausschlachten zu lassen. Gewinnbringend an anderer Stelle, bei der Armee oder in der Forschung zu keinem Nutzen freizugeben. Nie!!! Aber für frühere Zeiten können wir es nicht mehr verhindern.

Und deshalb liegt die Schuld bei uns.

Juli 2008