Unerklärliche Muskelschwäche

Wir starten in die Sommersaison. All überall kriechen die Sonnenhungrigen aus den Schatten der Häuser und verlassen die Enge ihrer Wohnungen – maßgeblich der Stadtwohnungen. Der Sehnsucht nach Grün folgt auf dem Fuße die Sehnsucht nach frischer Luft, nach Geselligkeit zu Zweit oder in Grüppchen. Und dieser Sehnsucht folgt unmittelbar jene, die den Appetit mit sich bringt, an besagter frischer Luft zu essen, zu trinken – kurz, zu schwelgen in Genüssen, die in dieser Form schwerlich im Inneren einer Wohnung stattfinden können.

Die Rede ist vom Picknick, einer wunderbaren Sache. Schon die Vorfreude darauf zu Hause beim Herstellen etlicher Speisen, die für ein solches Unternehmen geeignet sind. Da werden Eier hartgekocht und Hühnchenschenkel gebraten, Frikadellen gedreht und Kartoffelsalat womöglich selbst gemacht. Etwas Süßes in Form eines Schokoladenpuffers kommt gut an.

Zur Deckung des Vitaminhaushalts dienen Bananen und Äpfel oder auch Apfelsinen. Hartwurst und Käse, Brot und Franzbrötchen werden in Frischhalte-Folien verpackt, die Eier kommen zurück in die Eierpappen und zweitens wird alles in Körben und Taschen verstaut. Ein Einmal-Grill für herzhafte Würstchen darf keinesfalls fehlen. Die schmecken schließlich heiß am besten. Jegliche Art von Getränken – allen voran sicher ein guter Kaffee mit dazugehörigem Zucker und Milch, falls erwünscht. Selter und Apfel- sowie andere Säfte finden Platz in festen Behältnissen, die sich gut tragen lassen. Chips für zwischendurch in verschiedenen Geschmacksrichtungen – da ist für jeden etwas dabei. Servietten und Einmal-Teller, Einmal-Besteck und Einmal-Becher – edles Porzellan wäre gefährdet und ist auch zu schwer - in ausreichender Anzahl sowie Salzstreuer sind ein unbedingtes Muss, will man ein zünftiges Picknick veranstalten. Ganz Verwegene haben auch noch Wein, Sekt und Bier dabei, je nach Meute Dosenbier, dutzendweise. Nicht zu vergessen: Eine Decke, ein paar leichte Klappstühle, Kissen – alles wird zum Transport bereit gemacht. Und ebenfalls erwähnenswert die Freizeitspiele in Form von Disc-Scheiben oder Federball.

Alle Beteiligten sind guter Stimmung. Als Zielort wird das Ufer des Stadtparksees erkoren. Nicht ganz leicht zu erreichen mit so schwerem Gepäck, aber bis zur Hindenburgstraße mit dem Auto (oder mit Rädern) ja, das geht. So sich ein Parkplatz finden lässt.


Jeder packt mit an. Wirklich nicht ganz leicht, diese vielen Dinge in den Taschen, auf die sie verteilt sind, zum Ort des lustvollen Essens zu bringen. Aber diese jungen Leute sind nicht umsonst in der Mucki-Bude und haben deshalb jede Menge Energie und Kraft. Die will schließlich irgendwann mal angewandt sein. Und dann findet sich ein schattiges Plätzchen am See-Ufer unter einer der großen Eichen. Wenn man Sonne will, rückt man eben ein Stück. Und dann geht es ab, das große Schlemmen. Man wundert sich stets, wie rasant all die Köstlichkeiten dahin schwinden. Schwuppdiwupp! Und schon sind die Dosen leergetrunken, der Käse nur noch in Rinde vorhanden, Eierschalen liegen entleert neben zerknüllten Servietten und die Frischhalte-Folie ist ihres Inhalts verlustig gegangen. Sie findet einfach keine Verwendung mehr an diesem Ort.

Später, nach einem Bad, füllt sich der Bauch mit kleinen Resten und man kann dann der Ruhe pflegen. Wenn die anderen Menschen ringsum etwas leiser wären. Überhaupt, die haben vermutlich alle kein Zuhause, wenn sie sich in solchen Scharen hier niederlassen. Als hätte jemand einen Aufruf im Rundfunk abgegeben. Und wenn man sich so umschaut, hatten alle auch die gleiche Idee – Picknick, Picknick, Picknick – so weit das Auge sehen kann.


Das Baden im See und das Schwatzen, sogar das Ausruhen auf der Decke haben die mobilen Kräfte gefordert. Eine unerklärliche Muskelschwäche macht sich bemerkbar. Da ist es verständlich, dass es ein Unding ist, alles – wenn auch um vieles leichter geworden - wieder heimzutragen. Die Batterie der Körper ist leer und eine große Müdigkeit macht sich bemerkbar. Es ist ein großer Irrtum, dass das Essen, was einen Großteil des Gewichts ausgemacht hat, nun verschwunden sein soll. Eben nicht. Es ist noch vorhanden, und zwar in jedem einzelnen von uns. Das schleppen wir nun mit uns rum.

Deshalb ist es unlogisch zu denken, wir könnten nun, da alle Behältnisse leer gegessen sind, den Rest heimtragen. Dinge, die ohnehin keine Verwendung mehr finden, kann man deshalb getrost am Ort lassen.

Mögen sich andere darum kümmern und wer weiß, vielleicht benötigen späte Gäste des Parks Pappgeschirr second-hand und das Dosenpfand macht bestimmt andere glücklich. Hat ja alles Geld gekostet. Ein Stillleben der besonderen Art bleibt zurück: „Kunst im Park“ könnte der Titel lauten, käme eine Galerie auf die glorreiche Idee, diesen Dingen einen Platz einzuräumen: Der Einmal-Grill nebst Asche, die leeren Alu-Verpackungen, Plastikfolien, die ehemals Würstchen beinhalteten, denn die Verpackungsindustrie schmeißt damit um sich - darüber müsste man mal nachdenken – braune oder weiße Eierschalen beleben das Idyll der zerknautschten Servietten mit Gabeln und Messern aus Kunststoff, zerknickt, zerbrochen, unbrauchbar geworden, diverse Getränkedosen, platzsparend zusammengetreten, können immerhin nicht mehr anderswo ihr Wesen treiben. Das Fortkullern ist ihnen verwehrt, denn sie sind geknickt und das ist nicht emotional gemeint.

Ein Blick zurück, ein scheuer und bloß schnell weg, den Heimweg angetreten, der doch tatsächlich an einem Müllcontainer vorbeiführt. Ja, hier, und was soll mir das? Mit jedem Schritt, den ich mich vom Ort des Geschehens entferne, entfremde ich mich auch von meinem Tun. Wenn nicht gerade zufällig ein anderer Stadtpark-Gast der Unsitte nachgeht, mit seinem Handy ein Foto beweismäßig zu schießen - kein Mensch bringt mich und diese Müllhalde morgen noch miteinander in in Verbindung.

Und überhaupt morgen - morgen ist ein neuer Tag. Da suchen wir uns einen ganz anderen Platz für das Picknick, denn dieser hier ist doch ziemlich verwahrlost.