In Gedenken

Wir kommen alle eines Tages an diesen Punkt. Wir alle. Und damit meine ich nicht nur WIR als Zweibeiner, nein, auch alle Vierbeiner, alle Sechs- und Achtbeiner, alle Luft- und Wasseratmer, die Vögel unter dem Himmel und die Maulwürfe unter der Erde, der Regenwurm, der sich vorwitzig aus dem Boden reckt, sämtliche Pflanzen, ob sie groß oder klein, schön oder unscheinbar sind - kurz, alles , was diesen wunderbaren Planeten belebt, lebt eines Tages nicht mehr.

Das ist für die einen tragisch; andere gehen damit alltäglich um und denken nicht weiter darüber nach. Vor allem aber wir Menschen, wir sinnieren und grübeln, wir phantasieren und ziehen Bilanzen. Für uns selbst und auch für andere.

Aber da beißt die Maus keinen Faden ab – gehen müssen wir alle. Es ist schön, wenn wir ein Leben gelebt haben und erst gehen, wenn die Zeit dafür reif ist. Es ist weniger schön, wenn uns eine Krankheit packt und nicht wieder los lässt und diese Krankheit uns vorzeitig zwingt, das Leben und die  Lieben zu verlassen. Die Trauer um jemanden, der zu früh geht oder zu plötzlich, ist groß und die Tränen, die vergossen werden, müssen sein, damit das eigene Herz nicht auch stillsteht.

So unterschiedlich das Leben ist, so unterschiedlich ist auch das Fortgehen. Glücklich der, der so friedlich aus dem Leben geht, ohne viele Schmerzen zu erleiden, ohne dass das Leid, das sein Fortgehen für die anderen mit sich bringt, unerträglich ist.

 

Und dann kommt das unweigerliche: Wie nimmt man Abschied von einem geliebten Menschen? Wie bringt man ihn unter die Erde (oder wohin mit seiner Asche)? Da gibt es hier in diesem Land sehr genaue Vorschriften. Da kann nicht jeder machen, wie er will, was er will. Und der letzte Wille ist dabei völlig unerheblich, wenn gesetzlich nicht machbar.

So ist es wirklich gut, sich vorher abzusprechen, nein, noch besser: Schriftlich darzulegen. Und das möglichst noch mit Zeugenunterschriften.

VORHER Erkundigungen einziehen, um NACHHER nicht böse Enttäuschungen zu erleben. Ich meine, die Zurückbleibenden erleben sie natürlich nur. Der die Augen für immer geschlossen hat, merkt vermutlich nichts mehr. Ich betone VERMUTLICH, weil – man weiß es ja gar nicht genau. Es hat noch keiner vom Jenseits wirklich berichten können.

 

Zu den Gedanken an das Wie und Wo kommt noch der Plan, wer sich verabschieden möchte. Ein kleiner Kreis, ein großer, früher „versoff man das Fell“ am Tag der Beerdigung. Es ist mehr als üblich, mit dem Kreis derer, die den Verstorbenen auf dem Weg zur letzten Ruhestätte begleitet haben, mindestens einen Kaffee zu trinken.

Und da sitzen sie dann wie dunkle schwarze oder graue Klumpen, hockende Gestalten mit Falten im Gesicht, den Kindern werden die Münder verboten, weil eine solche Trauerfeier nicht laut sein darf und erst, wenn der dritte Cognac durch die Kehle geronnen ist, lassen sie die Sau raus. Menschen, die nicht in diese Runde gehören, aber zu Lebzeiten auch in irgendeiner Weise verbandelt waren, werden durchgehechelt; der Weltfrieden wird bekakelt und die letzte Mode kritisiert. Es traut sich keiner, zu früh zu lächeln. Wenns schlecht läuft, ist auch der Tote irgendwann dran mit dem Zusatz, dass man über ihn nichts Schlechtes reden soll. Und dann laufen sie wie aufgescheuchte Hühner auseinander und lachen sich eins, weil sie noch laufen können und nicht in einer kleinen Holzkiste liegen und verrotten.

 

Nun, es geht auch anders.

Ich hatte das große Glück bei einer Feier der ganz anderen Art Gast zu sein. Die Beerdigung hatte Tage vorher im kleinsten Familienkreis stattgefunden und nun gab es eine Gedenkfeier. Alle wurden eingeladen, die das Leben derjenigen berührt hatten, die fortgehen musste. Ob sie Freundin oder Lebensgefährtin, Mutter, Großmutter und Schwester gewesen ist. Die aus einem schlimmen Alptraum von Krankheit sich davon stehlen konnte und so ihr Leid hinter sich ließ. Und alle kamen. Zumindest die, die es zeitlich einrichten konnten.

In fröhlichen Farben mit viel Hallo und Wiedererkennen traf man sich bei wunderbarem Sonnenwetter zu Schmaus und Trank und guten Gesprächen. Erinnerungen wurden aufgefrischt.

„Weißt du noch....?“ War einer der häufigsten Satzbeginne an diesem Tag. Die Kinder von damals waren erwachsen geworden und brachten ihrerseits ihre Kinder mit. Dieser Nachmittag, dieser Verabschiedungs- und gleichzeitig Wiedertreffens-Tag, war wohl der fröhlichste, an dem ich aus solchem Anlass teilnehmen durfte.

Mit viel Gelächter und ohne jegliche Trauermienen unterhielten sich die Gäste und das war genau richtig so. Die aber, die nicht mehr dabei sein konnte, war dennoch die ganze Zeit über gegenwärtig. Nicht nur durch die Fotos, die auf den Tischen lagen und an den Wänden hingen, nein, auch durch Erzählungen, Anekdoten und „weißt du noch?“-Sätze. Manchmal schlich sich so ein Gefühl ein: Da fehlt doch noch jemand? Wann kommt sie denn? Aber nein, sie konnte ja nicht kommen. Ein kleiner Stich machte sich in Großbuchstaben in der Brustgegend breit, zog wie ein dünner Nebelschleier vorüber und verflüchtigte sich. Doch auch darüber gab es gute Gespräche, die dazu führten, dass manch einer seine eigenen Nebelschleier verlor.

Hier hockten keine trüben Gestalten mit finsteren bleichen Gesichtern an den Tischen. Hier saßen fröhliche Menschen, die zu anderen Zeiten eine homogene Gruppe gebildet hatten und nun davon profitierten, dass immer noch Schnittmengen vorhanden waren, deren Kreise überlappten; und dieser oder jene hatten sich niemals aus den Augen verloren.

Familie und Freunde, Weggefährten und Menschen, die sich gern erinnerten, saßen in bunt gemischten Reihen an den mit Sommerblumen geschmückten Tischen, tranken und aßen und freuten sich über die Kinder, die die Reihen jung machten.

Und neben mir saß meine Tochter , der ich das Versprechen abnahm, just so eine Feier auszurichten, wenn ich mal gehen muss.

Ganz neu und zart war ein Kind dabei, das gerade mal drei Wochen auf dieser Erde weilt.

Ich nehme es als ein gutes Zeichen. Das Leben siegt. Immer.

Ihr, die ihr über eurer Trauer den Mut fandet, eine solche Feier auszurichten, nehmt meinen Dank dafür.