Durften Sie als Kind "kleen"?

 

Den Beweis für die Aussage, dass das Rumsauen für die Entwicklung eines Kindes von immenser Bedeutung ist, trete ich im folgenden an.

Eines der liebsten Spielzeuge meiner Kindheit war eine Kinderpost. Im Pappdeckel fand sich ein Fenster, das als Postschalter diente; es gab kleine Briefmarken, Formulare und – es gab einen STEMPEL nebst dem dazugehörigen Stempelkissen. Was habe ich als Kind gestempelt. Und ich hielt mich nicht nur an die dafür vorgesehenen kleinen Spiel-Etiketten und Postformulare. Die Kinder-Post nahm später den Weg alles Irdischen und es hatte sich bei mir ausgestempelt.

 

Vor einigen Tagen suchten Freunde von mir das Amt auf. Ein wichtiges Amt. Es ging um einen noch wichtigeren Antrag. Sie hatten einen Termin bei einem wichtigen Beamten. An dieser Stelle möchte ich dafür plädieren, dass durch unsere Steuergelder nicht nur ein Tebartz van Elst in den Genuss solider Büroräume kommt. Man sollte auch daran denken, dass schmucke Bezirks-Amtsstuben ein Lächeln auf die Gesichter der Insassen und der Kunden zaubern können. Gut, also diese Amtsstube war nicht danach. Es fehlte an Mobiliar. Mindestens fehlte ein Stuhl, so dass von den drei Besuchern, die ihr Anliegen erledigen wollten (schön, sie kamen zu Dritt, was in diesem Fall durchaus angebracht war), nur Zwei einen Platz fanden. Ihnen gegenüber saß (noch) der wichtige Beamte. Seine Jacke von gedecktem Grau über einem hellblauen Hemd war etwas eng über der Brust geknöpft. Durch eine wichtige Brille nahm er in Augenschein, was da in seine Amtsstube getreten war und eine Strähne fiel ihm ins Gesicht. Mit einer lang erprobten Handbewegung strich er diese unerlaubte Einmischung zurück und das Anliegen nahm seinen Lauf. Es galt, mehrere Formulare auszufüllen und mit Daten zu versehen, was nicht er tat, sondern besagte Besucher. Es war eine gewisse Unwilligkeit zu spüren, die daher rührte, dass diejenige, die das Formular ausfüllte, keinen Sitzplatz hatte. Näher zu erklären, weshalb ausgerechnet sie stand und nicht saß, wäre müßig. Es war einfach so. Deshalb – und das muss man dem Beamten lassen – stellte er irgendwann seinen eigenen Stuhl zur Verfügung und lehnte in Folge am Schreibtisch, was einer gewissen Lässigkeit den Anschein gab. Den Anschein, versteht sich. Denn als Beamter war Lässigkeit per se ausgeschlossenn. Es war schon hinreichend lässig, dass er keine Krawatte trug.

 

Nachdem die Formulare richtig ausgefüllt waren, kam nun unser Beamter zum ersten echten Einsatz.

 

Er legte die Formulare vor sich auf den Tisch, richtete sie aus – es hätte nicht viel gefehlt und er hätte einen Winkelmesser oder etwas ähnliches zur Hilfe genommen – und klaubte aus einer Schreibtischschublade zwei Stempel sowie ein großes Stempelkissen; diese Utensilien baute er fachgerecht über den Köpfen der Formulare auf. Danach kontrollierte er Wort für Wort die Eintragungen, was sicher notwendig war, denn aus seinem reichen Erfahrungsschatz mit vorsprechenden Klappskallis kannte er seine Pappenheimer.

 

Nun, dieses Mal fand sich auch bei der zweiten wichtigen Kontrolle nicht ein Fehlerchen. Als mir davon berichtet wurde, packte mich tiefgreifendes Mitleid mit dem Beamten. Er gibt sich solche Mühe und dann das!

 

Jetzt kam er in Fahrt. Er nahm den einen Stempel, einen großen rechteckigen, besah ihn von allen Seiten und auch von unten (man muss genau sein, wenn man stempelt, das ist klar und vielleicht war der Stempel von einem Moment zum anderen gegen einen Wechselbalg ausgetauscht worden? Nein? Gut, dann konnte er als wichtiges Werkzeug dienlich sein. Nun wurde das Stempelkissen geöffnet, also der Blechdeckel aufgeklappt und der besagte Stempel auf das Stempelkissen gedrückt. Einmal, zweimal, dreimal und ein viertes Mal. Es sabbschte so richtig, als würden sich dicke Stiefel aus morastigem Untergrund lösen. Wenn so ein Stempel erst mal richtig eingesabbscht ist, tut man gut daran, ihn nicht sofort auf das wichtige Formular zu setzen. Nein, erst ein Vorabdruck auf einem weißen Papier – in diesem Fall die Rückseite eines entbehrlichen alten Formulars – gab der Zufriedenheit in den Augen des Beamten Ausdruck. Während er mit dem Stempel hantierte, nutzte er wieder die eingeübte Handbewegung, um diese vertrackte Haarsträhne an ihren Platz auf dem Kopf zurück zu befördern. Das war aber auch eine vorwitzige!

 

Mit dem Abdruck auf der Kladde gänzlich im reinen drückte er den Stempel nun bedächtig in die dafür vorgesehene Stelle des wichtigen Formulars. Nahm den Stempel nach der ihm angemessenen Zeit, die er gebraucht hatte, um der Stempelfarbe die Vereinigung mit dem Untergrund zu ermöglichen, hoch, hielt den Stempel eine Weile in der Luft, besah sein Werk und nickte. Genau so musste er aussehen, der amtliche Stempelabdruck.

 

Aber es gab ja noch einen zweiten Stempel. Einen ganz runden. Einen Siegel-Stempel. Sah man dem großen Rechteckigen schon an, welche Seite die richtige Stempelseite war, entzog sich dieser kleine Bandit von einem Stempel gänzlich der Kontrolle. Er war eben rund. Wie ein runder Tisch keinen Kopfplatz hat und jeder gleichberechtigt daran sitzt, so hatte auch dieser Stempel keine vorrangige Seite. Was war also zu tun, wenn man nicht schon vor Jahren auf die Idee gekommen war, dem Stempel ein kleines Zeichen an die Kopfseite zu ritzen, also an die, die andere davor bewahrte, den Stempelabdruck nachher nicht kopfüber lesen zu müssen? Richtig! Man musste den Stempel umdrehen, so dass das Stempelpolster für die eigenen Augen sichtbar wurde und man dann entscheiden konnte, wie man ihn am Griff drehen musste, um es richtig zu machen.

 

Gesagt, getan. Der Beamte war ja nun keiner von denen, die diese Chance nicht ergriffen hätten. Nein, das war er nicht. Und schon hatte er nach mehrmaligem Schauen und Drehen den Stempel in die richtige Position und gleich darauf auf das Stempelkissen gedrückt. Auch mit diesem Stempel ging er wie zuvor um. Einsabbschen, dann noch einmal die Position kontrollieren und probestempeln. Dann wieder die Position kontrollieren und – schwupps! - auf das richtige Formular aufbringen. Der Beamte trat einen Schritt zurück, besah sich sein Werk und wars zufrieden.

 

Die Gerätschaften wurden verstaut – so was lässt man ja nicht unnötig auf dem Tisch liegen und dann wurden die Formulare von ihm noch schwungvoll unterzeichnet. Ja, das soll schließlich auch für die Ewigkeit schön aussehen, sichtbar sein, wie wichtig es ist.

 

Alle Beteiligten atmeten auf und waren glücklich. Bis eine von den Besuchern eine Frage stellte, die alles in Frage stellte.

 

Was wäre wenn.....?

 

Der Beamte, nachdem er nicht nur die Strähne zurück geschoben hatte, sondern auch noch einen Schweißtropfen von der Stirn wischte, gab Rede und Antwort. Ja, die Möglichkeit bestünde durchaus. Dafür müsse aber noch ein anderes Formular ausgefüllt werden.

Und das ginge jetzt? Hier? Sofort?

Ja, das ginge auch sofort.

Gut, dann machen wir das. Dieser Meinung schlossen sich alle im Raum befindlichen Menschen an. Wenn es geht, weshalb nicht gleich? Da muss man ja nicht noch einmal einen Termin machen.

Der Beamte mit der rebellischen Haarsträhne ging zu einem Aktenschrank, schloss den auf und fischte aus einem Stapel von Papieren das benötigte Formular.

Gleich wurde es akribisch ausgefüllt und durchlief die gleiche Kontrollprozedur wie die vorherigen. Aber erneut fand sich kein Fehlerchen und mein Mitleid wuchs beim gehörten ins Unermessliche.

Als alles fertig und mit 100%iger Sicherheit richtig war, kamen die Stempel wieder zum Einsatz. Aus der Schublade strategisch aufgebaut.

Anschauen, einsabbschen, probestempeln, stempeln in echt – beide Stempel. Nein, stimmt gar nicht, nur der große kam erst einmal in sorgfältiger Manier per Abdruck zum Ziel. Nicht so der kleine Runde. Der fand erst Zugang zum Papier, als der Beamte die Besucher aufforderte, die vorherigen Formulare zu zerreißen. Wie bitte? Ja, zerreißen Sie die, dieses neue Formular ersetzt sie und ich darf das erst mit dem Siegel versehen und unterzeichnen, wenn die anderen Formulare zerrissen sind.

 

Nun denn, ritsch-ratsch, wurden die vorher mit so unendlicher Sorgfalt behandelten Papiere altpapierreif gemacht. Sie durften auch nicht als Kladde-Papiere aufbewahrt werden, denn sie trugen ein amtliches Siegel und obwohl Namen, Geburtsdaten und Anschriften dort festgeschrieben waren und nur unter Beteiligung eines amtlichen Ausweises zum Einsatz kommen durften – man hätte mit diesen besiegelten Formularen aber Schindluder treiben können, sag ich Ihnen, womöglich es zu unlauteren Zwecken nutzen können, illegale Geldwäsche betreiben oder oder oder.....

Als der Beamte dann die zerrissenen Papiere in den dafür vorgesehenen Korb geworfen hatte, trieb er sein Spiel mit dem runden Stempel aufs Neue. Es hatte noch immer keiner Zeichen gekerbt, wie rum er denn nun gehöre. Davon kann man ja auch nicht ausgehen. Wer wohnt schon in der Schreibtischschublade? Ein Heinzelmännchen? Hahahaha. Nein, da musste der Beamte wirklich schon genau schauen und drehen und wieder schauen und drehen und einsabbschen, viermal, und probestempeln und wieder schauen, dann schließlich in echt stempeln und dann durfte er unterzeichnen.

Nach erneuter Verwahrung der Utensilien – wir erinnern uns: Stempel und Stempelkisssen – in der dafür vorgesehenen Schublade erhielten die Besucher nun dieses neue ausgefüllte und besiegelte Formular. In echter Freundschaft schied man voneinander.

 

Ich sage Ihnen, dieser Beamte hatte als Kind keine Kinder-Post.