Besser ist's.

 

Wer für sich abstreitet, sein Leben mit Ritualen zu bereichern, kennt sich selbst vermutlich wenig, hat vieles vergessen oder mag es nicht zugeben, weil er „sich selbst beherrscht“. Ich stelle für mich jedenfalls fest, dass mein Tagesablauf, Freizeit, Arbeit oder was auch immer von vielen Ritualen geprägt ist. Dabei sind die lebensnotwendigen Dinge noch ausgenommen. Ich ertappe mich dabei, dass ich immer aus einem ganz bestimmten Becher meinen Kaffee am Morgen trinke. Ja, höre ich Zweifler sofort sagen, ist doch klar, aus diesem Becher schmeckt dir der Kaffee am besten. Zugegeben, das ist ein Grund. Aber wenn ich diesen Becher morgens nicht nutze, kann es sein, dass mein Tag nicht richtig beginnt. Glaube ich. Ich sage mir das nicht jeden Morgen neu, aber ich handele so. Ich dusche nach dem heißen Duschen kalt. Das machen viele. Aber duschen die auch immer zuerst das rechte Bein kalt? Na? Also – wenn ich das linke Bein zuerst dusche, habe ich den Eindruck, ich „steige“ mit dem falschen Fuß zuerst aus der Wanne.

Und so ist es bei vielem – Gewohnheit, Ritual, Zwang (naja, letzerer wäre vielleicht übertrieben).

Und was haben wir als Kinder gemacht? Der eine oder die andere erinnert sich vielleicht, welchen kreativen Beschäftigungen wir nachgegangen sind; wie oft wir bestimmt haben, dass es erst ein rotes Auto sein muss, was um die Ecke biegt, wenn es Glück bringen soll.

Heute, auf dem Wege zum Wochenend-Einkauf, bin ich wieder einmal vielen rätselhaften Zeitgenossen begegnet. Sie sind sicher nicht rätselhafter als ich für sie, aber ich falle mir selbst schließlich nicht auf.

Es gab da welche, die mal wieder in aller Seelenruhe den Radweg als Grüppchen versperrten und die in teure Fummel gekleidete Eppendorferin, der der Fußweg zu profan war und sie deshalb ebenfalls auf dem Radweg lief. Und sich zu meiner Erheiterung heftig erschreckte, weil ich meine Klingel betätigte. Ganz zu schweigen von meinen Erlebnissen auf der Post, aber das gehört grad nicht hierher und wird später ein eigenes Streiflich ausfüllen können.

 

Irgendwann kam mir ein älterer Herr entgegen, der mir obwohl noch rund 50 m entfernt, durch seine absurd anmutenden Bewegungen auffiel. Klein, schmächtig, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf. Er trug einen wadenlangen Mantel aus dunkelblauem Stoff, unter dem zwei, wie mir schien, viel zu dünne Beine in enganliegenden Jeans hervor lugten. Seine Füße, die er tänzelnd vor und seitwärts bewegte, steckten in dunkelglänzenden Schnürstiefeln, und links bamselte der wohl nicht fest verknotete Schnürsenkel herab, so dass ich kurzzeitig fürchtete, der Mann könne ins Stolpern geraten. Im Näherkommen hatte ich den Eindruck, dass die tänzelnden Schritte, zu denen er seine Arme rechts und links leicht auf- und abschwingen ließ, einen gewissen Rhythmus hatten.

Er schwankte keineswegs, so dass die Annahme, er habe einen über den Durst getrunken, schlichtweg falsch war. Nun waren wir fast auf gleicher Höhe – also ich etwas höher, da auf dem Sattel meines geliebten Rades sitzend – er tänzelnd auf dem mit großen Steinplatten gepflasterten Fußweg. Und da ging mir ein Licht auf. Seine Schritte vollführten mitnichten einen Tanz aus. Diese Links-Rechts-Schritte, das vorsichtige Wippen auf den Zehen – dieser Mann versuchte, die Risse und Ränder der Steinplatten zu meiden. Tritt nicht auf die Fugen! spielten wir als Kinder und dieses Ritual wurde Tag für Tag wiederholt, wenn wir von der Schule heimkehrten.

Und? Kann es so falsch sein, wenn es sich um ein Ritual handelt, das nahezu weltweit – also überall dort, wo Kinder einen Weg auf Steinplatten zurücklegen – Verbreitung gefunden hat?

Und nun sehe ich also diesen Mann, der vorsichtig und konzentriert die Risse umgeht, überspringt, mit großem Schritt überwindet. Wer weiß, welchen Ärger er sich einheimst, wenn es ihm nicht überall und immer gelingt. Da kann ich nur sagen: Besser ist's.