Winterliches Kräftemessen

Die vier Abschlussklassen der Realschule hatten die ehrenvolle Aufgabe einer Weihnachtsaufführung, und gerade war die sehr chaotische Generalprobe beendet worden. Eine lärmende Schar Jugendlicher verließ die Aula. Es war spät. Nasskalte Luft schlug ihnen entgegen, und eine tiefhängende Wolkendecke ließ weder Mond noch Sterne durch.

 

"Mensch, es hat geschneit!" schrie jemand. Die dünne Decke Neuschnee hatte keine Gelegenheit liegenzubleiben, sondern wurde von vielen Händen zu eisigen Schneebällen geformt, die treffsicher ihre Ziele fanden. Vor dem Haupttor entwirrte sich allmählich die große Menge und kleinere Grüppchen machten sich auf den Heimweg.

 

Andy Bolén*, den sie alle "Schwarzenegger" nannten, weil er Stammgast im Fittness-Center war, gab seinem Freund Yassim Kaybulut* einen Stoß zwischen die Rippen. Dem machte das herzlich wenig, er besaß immerhin schon den grünen Karategürtel. Zusammen mit Tobias Henkel*, dem diesjährigen Sieger im schulischen Wettbewerb der Landesjugendspiele, bildeten sie ein unzertrennliches Trio.

 

"Glaubt ihr, dass der Schnee liegenbleibt?" Tobias zog sich die Mütze tiefer über die Ohren und prüfte noch einmal mit seiner rechten Fußspitze die Schneeschicht auf dem asphaltierten Gehweg.

 

"Keine Chance", antwortete Andy, "und was solls auch. Kitsch genug haben wir auch so zu Weihnachten. Guck dir das bloß mal an."

 

Sie blieben vor einem der Vorgärten stehen.

 

"Das ist echt cool, Mann", stellte Yassim fest, "Gartenzwerge im Tannenbaum."

 

Das kleine Bäumchen im Garten war erstens mit etwa einem Dutzend strahlender künstlicher Kerzen und zweitens mit ebenso vielen hängenden Gartenzwergen geschmückt, die selbstleuchtende Mützen trugen.

 

"Das ist kein Kitsch, das ist Kunst." Tobias Vater war Designer, da hatte er Ahnung.

 

"Na, mir ist es sowieso egal", entgegnete Andy, "wir werden keinen Baum haben. Heiligabend machen wir bei Oma ab, und am ersten Weihnachtstag - ich sage nur DÜSE - geht es nach Las Palmas."

 

Yassim quälte der blanke Neid. "Du unter südlicher Sonne, und wir hier im sch...kalten Hamburg." Er boxte Andy gegen den Oberarm, der wegen der gefütterten Bomberjacke schmerzunempfindlich war.

 

"Also noch haben wir auch keinen Baum, aber wie ich meine Familie kenne, kriegen wir einen, schon wegen Jessica und Tinchen. Mein Vater kauft den immer. Muss besonders gut gewachsen sein, damit er seine Schmückideen umsetzen kann. Dies Jahr will er einen mit Wurzeln. Den will er dann nach Weihnachten einpflanzen." Tobias grub mit der Hand ein Loch in die Luft.

 

"Ach, und nächstes Jahr wieder ausgraben? Komische Sachen macht ihr." Yassim lachte.

 

Andy blieb stehen. Die anderen beiden mussten eine halbe Drehung machen, weil sie weitergegangen waren.

 

"Was ist los?"

 

"Was meinst du, wenn wir deinen lieben Eltern eine vorweihnachtliche Freude machen würden?"

 

"Meinen Eltern?" Tobias guckte seinen Freund an, als ob die Kälte ihm den Verstand eingefroren hätte. "Und wie?"

 

"Seht mal da drüben. Was ist da?" fragte Andy.

 

"Da drüben? Nichts." Tobias und Yassim rätselten.

 

"Der Friedhof, ihr Blindhühner!"

 

"Ja - äh, und?"

 

"Mit vielen Tan-nen-bäu-men", antwortete Andy, wobei er das Wort "Tannenbäumen" durch mehrere Tonlagen laufen ließ.

 

"Ich versteh nur Bahnhof", meinte Yassim, aber Tobias durchschaute den Plan.

 

"Du willst auf 'm Friedhof 'nen Weihnachtsbaum klauen?" fragte er.

 

"́türlich, warum denn nicht?"

 

"Weil zum Beispiel das Tor verschlossen ist?"

 

"Und? Schon mal das Wort „Klettern“ gehört?“

 

Die Drei schauten sich an und dann, wie auf ein Kommando, rannten sie los, über die spärlich befahrene Straße, den Zaun entlang, bis sie eine günstige Stelle zum Überklettern fanden. Für die drei durchtrainierten Sportler war es ein Kinderspiel, den Zaun trotz hoher Spitzen an der Abschlusskante zu überwinden. Dann standen sie hinter dichtem Rhododendron-Gebüsch und hielten den Atem an. Nein, nicht weil sie auf dem Friedhof waren, sondern weil ja unter Umständen Wärter herumschlichen. Es war sehr dunkel. Nach einer Weile des Wartens und weil alles still blieb, tasteten sie sich bis zum Weg durch, der wegen seiner hellen Asphaltierung trotz allem gut zu sehen war.

 

"Ich kenn eine Ecke", flüsterte Andy, "wo jede Menge Tannenbäume stehen. Da drüben."

 

Sie schlugen die angedeutete Richtung ein. Leise, aber so schnell wie möglich, gingen sie weiter. Alles war so ruhig, beinahe zu ruhig, deshalb summte Tobias eine Melodie.

 

"He, Mann, hast wohl Angst." Yassim sagte es etwas zu laut und erschrak über seine eigene Stimme. Andy kicherte nervös. Neben ihnen raschelte es im Gebüsch. Wie ein Mann blieben sie stehen. Eine genervte Ratte lief über den Weg.

 

"Hätte doch ́n Wärter sein können", meinte Tobias.

 

"Ja klar."

 

Aber dann hatten sie den Platz erreicht, der mehrere Tannen aufwies, die kreisförmig um ein großes Familiengrab angeordnet waren. Kleinere und größere, alle wohlgeformt. Eine große Engelsstatue mit weit ausgebreiteten Flügeln zeichnete sich gegen den fahlen Schneehimmel ab. Ein steinerner Wächter. Nur die Umrisse waren auszumachen, alles andere blieb im Schatten der Nacht.

 

Dunkel ragten auch die Tannen gegen den etwas helleren Himmel.

 

"Wie inner Baumschule, zum Aussuchen. Und alles ohne Bezahlung", meinte Tobias.

 

"Welcher würde deinem Vater gefallen?"

 

"Mhm, der hier vielleicht? Oder der? Nein, zu groß. Und wie willst du den überhaupt herausbekommen? Hast du vielleicht eine Schaufel in der Tasche?"

 

"Ich hab meine angewachsenen Schaufeln", antwortete Andy und streckte seine beiden Hände nach vorn. Das fanden sie komisch und lachten. Es war gut, dieses Lachen. Ein angenehmes Geräusch in der Stille des Friedhofs.

 

Der Grabstein vor ihnen war doppelt mannshoch und mindestens zwei Meter breit. Den Text der Inschrift konnten sie beim besten Willen nicht lesen, aber auf der Rasenfläche hoben sich sechs kleine Steinplatten ab. Yassim stellte sich mit einem Fuß auf die erste in der Reihe, hob das andere Bein hoch und imitierte das Krähen eines Hahnes. Die beiden anderen fanden, er sei eben ein echter Hahn. Tobias legte sich zwischen die Steinplatten.

 

"So liegen die hier unten", kam seine etwas gequetschte Stimme vom Boden herauf, "ganz gemütlich hier - trotz Schnee und so."

 

"Na, dann wollen wir mal. Wir fassen hier alle am Stamm an und ziehen auf einmal - auf mein Kommando."

 

Sie fassten den Stamm zwischen den Zweigen. Andy rief: "Eins - zwei - drei - jeeetzt!!!"

 

Sie zogen kräftig, aber die Tanne rührte sich kein Stück aus ihrer Erde.

 

Schwierig war es auch, sie zu umfassen und festzuhalten, weil der Stamm kalt und glitschig war, dazu naturbedingt stachelig. Ihre Hände waren ebenso naturbedingt ohne Schutz.

 

"Nur nicht aufgeben, noch einmal. Los! jeeetzt!!!"

 

Wie beim ersten Mal tat sich überhaupt nichts. Die Tanne stand, wie sie seit der Zeit ihrer Anpflanzung dort gestanden hatte, gerade und stark.

 

"Aller guten Dinge sind drei", meinte Andy, "ich weiß genau, dass die Wurzeln gar nicht so tief gehen. Wir schaffen es. Los, auf drei!!!

 

Er zählte wieder und sie zogen. Natürlich passierte gar nichts. Die Drei waren sicher die Stärksten ihrer Schule, schauten aber gerade eben mal auf ein Leben von höchstens sechzehn Jahren zurück. Die Tanne dagegen stand seit vielen, vielen Jahren am Ort und hatte ihre starken Wurzeln eingegraben. Sie hatte nicht die Absicht, den Standort zu verlassen. Da brauchte es schon mehr als sechs Jungen-Hände.

 

Andy biss sich auf die Unterlippe. Bisher konnte er sich immer auf seine Kräfte verlassen. Warum klappte es nicht? Er beschloss, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Und dies teilte er auch den anderen beiden mit.

 

"Wie meinst du - nicht mit rechten Dingen?" Yassim spürte eine plötzliche Blutleere im Kopf.

 

"Naja , kann sein -" seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern "- es hält jemand fest."

 

Tobias einsetzendes Lachen stockte unvermittelt.

 

"Du meinst, da, wo ich vorhin gelegen habe, von da hält jemand den Tannenbaum fest?"

 

Während Andy dies noch einmal bestätigte, wichen sie rückwärts vom Grab weg. Es war immer alles noch sehr still. Dann kam ein kleiner Wind auf, der die Wipfel der dunklen Tannen bewegte und durch die wirbelnden Schneeflocken schien auch der Engel lebendig zu werden.

 

"Siehst du", schrie Andy, "jetzt winken sie auch noch!"

 

Sie wendeten schnell und hetzten zum Zaun zurück, Gebüsch und Zweige, die ihnen die Gesichter zerkratzten, nicht mehr beachtend. Keiner von ihnen sah sich noch einmal um. Das hohe Gitter überwanden sie diesmal nicht ohne Schaden an Jacken und Hosen.

 

In einiger Entfernung blieben sie mit klopfendem Herzen schnellatmend stehen. Das Licht einer Straßenlaterne leuchtete freundlich durch die Nacht, und Andy sagte: "Kein Wort davon zu den anderen, verstanden?"

 

Irgendwie kam die Geschichte mir dann doch zu Ohren. Wie gut, sonst hätte ich sie nicht erzählen können.