Der Eremit
Das Unwetter hatte tagelang getobt. Ungewöhnlich früh zu dieser Jahreszeit, denn noch war der Herbst erst ein paar Tage alt.
Dieser Sturm hatte das Meer schmutzig-braun aufgewühlt, so dass die Wellen nicht wie sonst weich und seicht den weißen Sandstrand hinauf rollten, sondern mit langen nassen Fingern sich ins Ufer
krallten. Haushoch hatten sie sich getürmt, und Baum und Strauch weit oberhalb der üblichen zarten Algengrenze mit einer Salzschicht bedeckt.
Die kleine, nicht für die Ewigkeit gebaute Hütte hatte dem ganzen nicht Stand gehalten. Vom Dach waren nur noch Fragmente vorhanden, und ein paar hochkant stehende Holzlatten ließen mehr erahnen,
dass hier einmal eine Behausung gestanden hatte.
Der ehemalige Bewohner dieser kleinen Strandhütte war mit ein paar Habseligkeiten und dem Schrecken davon gekommen und hatte die letzte Nacht hoch oben in dem kleinen Wäldchen auf der Steilküste
zugebracht.
Gerade kam er mit dem ersten Licht der Morgensonne an den Strand herunter, um sich die Überbleibsel seiner ehemaligen Heimstatt anzusehen. Er sortierte die armseligen Reste und breitete die
nassen Sachen auf dem schon trockenen Strand aus. Sein wettergeübtes Auge sagte ihm nach einem Blick über das Meer und den angrenzenden Horizont, dass der Sturm gegangen war und vorerst nicht
zurück erwartet werden musste. Es versprach zudem, alles in allem ein schöner Tag zu werden.
Der jetzt Obdachlose ging seiner morgendlichen Beschäftigung nach: Strandgut.
Es war mit Sicherheit eine Menge angeschwemmt worden, was brauchbar, ja, vielleicht sogar essbar war.
Mit weit ausholenden Schritten seiner nackten Füße ging er die vertrauten Kilometer entlang der Steilküste, und seine Augen erfassten schnell, was sich am Strand angesammelt hatte. Für gut
Befundenes wurde von ihm an geschützte Stellen gelegt, so dass er auf dem Nachhauseweg keine Mühe haben würde, die Dinge wieder zu finden. Ein stiller Beobachter hätte unschwer den routinierten
Sammler erkannt. Heute Morgen allerdings waren es in der Hauptsache Holzstücke, die er aufhob, betrachtete, entweder für später zur Seite legte oder sie als „nicht brauchbar" mit großem Schwung
dem Meer übergab, was ihm sichtlich Vergnügen bereitete.
Hier und da bückte er sich nach kleineren Gegenständen , die er sofort in einem kleinen Beutel verstaute, der an seiner Seite baumelte und sich rasch füllte.
Plötzlich verharrten seine Schritte. Ein Stück voraus hatte er einen unförmigen Gegenstand erspäht und ahnte, noch bevor er es wirklich erkannte, dass dort ein menschlicher Körper lag.
Der Einsiedler ging zögernd näher. Bald schon konnte er Einzelheiten erkennen und sah, dass dort ein Mann in ähnlichem Alter wie er selbst ein nasses Ende gefunden hatte.
Lange blickte er in die gebrochenen Augen seines Gegenüber. Es war nicht die erste Leiche, die er am Strand fand. Lange Jahre hatte er hier zugebracht und mehr als einmal war er der Finder von
Ertrunkenen gewesen. Jedes Mal hatte er mit sich gerungen, ob er der Polizei den Fund melden oder ihn lieber wieder dem Meer übergeben sollte, so dass er an einem anderen Stück des weiten Meeres
erneut angespült würde.
Er hatte seine Gründe für dieses Vorgehen. Der Weg zur nächsten Ortschaft war weit, und er war aus dieser oder jener Ursache bei der hiesigen Polizei nicht sonderlich gut gelitten, zu Unrecht
oder nicht, bleibt anheim gestellt.
Andererseits brachte es auch Unannehmlichkeiten mit sich; er wurde verhört, so dass es ihm mitunter den Anschein hatte, er sei nicht schuldlos an dem Tod desjenigen, der da an seinem Strand
angeschwemmt worden war. Ja, es war sein Strand. Manchmal, wirklich nur manchmal kamen Badegäste hierher, aber der Weg war zu beschwerlich, und die Autos mussten Kilometer weit weg geparkt
werden. Außerdem ließ er es die Menschen spüren, dass sie hier nicht willkommen waren. Sie kamen selten ein zweites Mal.
Aber die Toten, die kamen, ohne dass er es verhindern konnte. Und er hatte mit sich selber zu streiten, was zu tun sei.
Er beugte sich hinunter und fing an, die klatschnassen, von der frühen Sonne noch nicht durchwärmten Sachen des Toten zu untersuchen. Der trug einen Anzug von dunkelgrauer Farbe, eine
Krawatte um den Hals, die vielleicht einmal in akkurater Manier vor der Brust gehangen hatte. Jetzt lag sie schlaff nach hinten geklappt über der linken Schulter und ließ dadurch die Kehrseite
sehen. Das Hemd sah edel aus. Die Füße waren weit ausgestreckt und steckten in Socken. Schuhe waren - zumindest jetzt - nicht vorhanden. In den Taschen der Jacke, die wohl nicht zu den billigsten
gehörte, fand sich kaum etwas Nennenswertes. Ein Paket durchweichte Papiertaschentücher, ein Stift mit einer goldenen Kappe, ein kleiner Notizblock ohne Notizen, ein angebrochenes Päckchen
Zigaretten von einer Marke, die ausländisch anmutete. Der Eremit steckte den Stift in seinen Beutel. Ausweispapiere fanden sich nicht. In der linken Innentasche des Jackenfutters ertasteten seine
Finger etwas Undefinierbares aus einem harten Material. Als er es neugierig heraus zog, hielt er eine kleine Figur in der Hand, die eine Nixe darstellte und aus einem wunderbaren Material gemacht
schien. Das fühlte sich jetzt in der Hand so weich an und war doch aus ganz fester Substanz. Sein Blick blieb an dem zart geformten Gesichtchen hängen, das so winzig war und doch vollkommen. Nie
hatte er etwas Schöneres gesehen. Er hatte das Empfinden, einen Schatz in den Händen zu halten. Vorsichtig schloss er die Finger um die Figur und richtete sich auf. Sein Blick schweifte, um
etwaige Beobachter auszumachen. Er war allein - wie immer um diese frühe Stunde. Für ihn war es beschlossene Sache, diesen Toten jedenfalls nicht zu melden. Womöglich wurde er bereits vermisst,
man wusste, wer er war, und dass er eine kostbare Figur bei sich getragen hatte. Kurz überlegte er, ob er diesen Toten zurück ins Meer ziehen solle, dann ließ er es einfach. Der Tote, so schien
es, verschwand unmittelbar aus seinen Gedanken. Der Strandläufer hastete in Richtung seines Lagerplatzes und alle paar Schritte öffnete er seine Hand, um die Kostbarkeit noch einmal anzusehen. Um
sich zu vergewissern, dass sie noch dort war. Ein starkes Gefühl des Glücks stieg in ihm auf, als er den Weg bis zu den Überbleibseln seiner Hütte geschafft hatte, ohne dass die Nixe verloren
war. Daneben spürte er so etwas wie einen Triumph, als habe er eine Eroberung gemacht. Suchend sah er sich um. Wo konnte er dieses Kleinod verbergen, so, dass man es ihm nicht mehr nehmen konnte?
Es musste ihm ein ganz sicheres Versteck einfallen. Er ließ sich im Sand nieder und streckte die offene Hand auf seinem Knie aus.
Die Augen der Nixe sahen ihn an. Er wusste, dass Maler die Möglichkeit hatten, Augen zu malen, die den Betrachter, von welchem Winkel auch immer, ansahen. Er führte seine Hand langsam von links
nach rechts. Die Augen folgten seinem Blick. Es war phantastisch! Diese kleine Zauberei durfte ihm keiner wieder nehmen. Er fühlte schon jetzt in sich Zorn aufsteigen über mögliche Diebe. Die
Hütte musste wieder aufgebaut werden, und stärker als zuvor. Nicht länger diente sie als Obdach für sein eigenes armseliges Leben, sondern musste eine Trutzburg für seinen Schatz werden. Doch
wohin in der Zwischenzeit? Eingraben? Ihm wurde allein bei dem Gedanken schlecht und aus irgendeinem Grund standen ihm die Haarwurzeln plötzlich zu Berge. Obwohl die Nixe - wie es schien - aus
einem steinernen Material war, fühlte die sich in seiner Hand zunehmend warm an.
Die Sonne stand nun auch schon recht hoch und heizte den zerfurchten Strand ordentlich auf, vielleicht ein letztes Mal in diesem Jahr.
Er blickte auf die kleine Figur, und je mehr er sich mit ihr beschäftigte, desto klarer wurde es ihm: Es gab kein sicheres Versteck für dieses Kleinod. Er konnte es nicht aus der Hand
legen.
Er verlegte sich auf Selbstgespräche, wie es immer dann seine Art war, wenn er mit Entscheidungen zu kämpfen hatte, doch nie war eine Entscheidung für ihn wichtiger gewesen.
„Ich kann dich doch nicht in eine Dose legen, dich verstecken, womöglich vergraben", murmelte er für sich, wissend, dass er keinen Zuhörer hatte. „Was soll ich tun? Was soll ich tun?"
Seine Frage schien mit der morgendlichen Brise zu verwehen.
„Bring mich zurück ins Meer", ertönte eine wirkliche kleine Stimme, und die Nixe setzte sich auf.
Es hätte nicht viel gefehlt, und der Finder hätte seinen Schatz in den Sand fallen lassen. Starr vor Staunen saß er mit offenem Mund und hielt seine Hand in einer Art Lähmung waagerecht. Er
blickte auf die kleine jetzt sitzende Gestalt. Alles an ihr war in Bewegung geraten. Die Haare, vorher eine glatte glänzende Masse, wehten im leichten Wind, der von See kam. Ihre winzigen Hände,
mit denen sie sich rechts und links abstütze, suchten in seinen derben Handfurchen immer neuen Halt; ihr schuppiger Schwanz hatte sich nach hinten geschoben.
„Zurück ins Meer", wiederholte sie jetzt noch einmal mit diesem Stimmchen, das er kaum verstehen konnte und das dennoch klar an sein Ohr drang, „nur dort bin ich sicher."
Sein Herz machte einen Aussetzer, um gleich danach schneller zu schlagen.
„Ich habe dich gefunden. Ich möchte dich behalten. Für immer", antwortete er, und noch einmal wie im Traum: „Für immer."
Doch schon bei den letzten Worten wusste er, dass er ihren Wunsch erfüllen würde und er wusste, wie er ihn mit seinem verbinden konnte.
Ins Meer. Für immer.